Kammer auf, Scheiße rein, abschließen, weitermachen. Das kann schon mal dreißig Jahre lang gut gehen. Die Kammer befand sich, klein und unscheinbar, in einer unbeleuchteten Ecke des Kellers. Da war ich selten. Klar, die Kammer füllte sich und es suppte so nach und nach immer mal durch den unteren Türspalt in den letzten zwölf vierzehn Jahren oder so. Stank eine Weile im ganzen Gemäuer, wurde dann krustig auf dem Kellerboden und dann war wieder gut. Dort brannte kein Licht. Die Kammer war schon ewig nicht mehr zum Aufmachen gedacht, also bohrte ich oben links ein Loch in die Tür und flanschte ein Füllrohr an. Dort oben war noch Platz.
Das mit Mutter hätte nicht passieren dürfen. Nicht auf die Art und Weise, nicht uns, nicht mir, vor allem anderen aber nicht ihr. Das passte nicht mehr durch das C-Rohr im Keller. Diese Ladung war zu groß. Die Tür bekam einen Bauch, der spannte. Von innen nach außen.
»Ich komm dich dann morgen Nachmittag besuchen, wenn du wieder wach bist. Halt die Ohren steif!«, war das Letzte, was ich zu meiner Mutter sagte, von dem ich mir sicher bin, dass sie es auch hörte.
Ende Januar 2020 war das, am Tag vor ihrer Gefäßoperation, wir hatten abends im Dunkeln noch eine Runde ums Krankenhaus gedreht und eine geraucht. »Wird schon alles werden.« hatte ich gesagt, vor allem aber gar nichts zum Thema, um sie abzulenken, während sie mir letzte Instruktionen gab, wie ich mit „Cookie“, dem Zwergschnauzerwelpen umzugehen hatte, den wir ihr vor nicht mal drei Monaten vom Züchter geholt hatten. Er war bei uns in Pflege und rannte schon das ganze Wochenende hinter unserem Kater her. Roch ihm permanent am Arsch. Peterchen war zunehmend genervt und lief so schnell wie möglich mit den zusammengekniffenen Beinen von jemandem, der sich gleich in die Hose macht, vor ihm weg. Das erzählte ich ihr auf unserem letzten Spaziergang. Sie lachte laut und sagte: »Der arme…«. Ich freute mich immer, wenn ich sie mal so zum Lachen bringen konnte. Sie hatte viel erlebt im Leben und ziemlich sicher ihre eigene undichte Kellertür.
Auf meinen letzten Satz antwortete sie: »Mach dir keine Umstände. Übermorgen reicht auch, meiner.«, wie immer darum bemüht, ja niemandem zur Last zu fallen. Alles geben, nichts nehmen.
Am nächsten Nachmittag besuchte ich sie mit meinem Bruder, nachdem uns der diensthabende Stationsarzt auf der ITS nüchtern mitgeteilt hatte, dass es Komplikationen bei der OP gab. Einen Anruf war das bis dahin niemandem wert gewesen. Im operierten Gefäß war angesammelter Schmodder aus 62 Lebensjahren abgegangen und hatte sich im Körper verteilt. War in den kleinsten Blutgefäßen stecken geblieben. Vor allem in den Füßen. Sie schlief an diesem Nachmittag und sah übel aus. Unheimlich… alt. Ich strich ihr kalten Schweiß von der Stirn. An den folgenden Tagen war sie ansprechbar, verstand aber vor lauter Sedierung die Welt nicht mehr. »Ich versteh garnicht, was ich hier noch soll?«, sagte sie. Am nächsten Tag hatte sie vergessen, dass wir am Vortag zu Besuch waren. Dann kam das Durchgangssyndrom, dass sie an manchen Tagen albern wie ein kleines Kind machte. Einmal begrüßte sie uns lachend und Grimassen schneidend. Mein Bruder und ich sprachen uns Mut zu. »Vielleicht geht es ja nun wieder aufwärts..«. Meistens schlief sie aber, wenn wir da waren. Die Mienen der Ärzte wurden indes immer ernster, wenn sie uns sahen. Die Füße verfärbten sich schwarz, drohten abzusterben. Sie musste noch mehrmals operiert werden. Dann künstliches Koma, dann künstliche Ernährung, dann künstliche Niere. Immer mehr Apparate standen am Bett. Entzündigungswerte am Anschlag. Sauerstoffsättigung am Boden trotz künstlicher Beatmung. Auskünfte mussten wir uns erbetteln. Konkrete Prognosen erhielten wir trotzdem nicht. In der einsamen Zeit am Bett lernten wir, die Werte von den Monitoren selbst abzulesen und zu interpretieren. Es gab einige Tage mit besseren Werten und zu viele mit schlechten. So ging das ungefähr fünf Wochen lang. Ich erkundigte mich schon mal nach freien Pflegebetten in der Region. Zu Maria sagte ich: »Wenn sie jetzt auch noch ein Pflegefall wird oder ohne Füße in einen Rollstuhl muss, das hält sie nicht aus. So eine gottverdammte Scheiße, man!«
Im Februar berichtete die Tagesschau zum ersten Mal von einer mysteriösen Lungenkrankheit aus China. Ungefähr ab März war nur noch ein Besucher pro Tag gestattet, ab Mitte März gar keiner mehr. Harter Lockdown. Wir telefonierten viel mit den Pflegern und Pflegerinnen, die zunehmend mehr durch den Wind waren, schickten gemalte Bilder der Enkelinnen und Briefe ins Krankenhaus und bettelten drum, dass sie meiner Mutter vorgelesen werden oder ihr mal ein Telefonhörer ans Ohr gehalten wird. Bei ihrem Handy war irgendwann der Akku alle. Unsere Textnachrichten kamen nicht mehr an. Kamen sie auch vorher nicht, genauso wenig wie die Briefe und die Bilder, aber gefühlt dann doch. Das Krankenhaus funktionierte immer schlechter, die Leute wussten nicht mehr, wie sie mit uns umgehen sollen. Das hielten wir nur eine Woche lang aus. Wir begannen bei den Verantwortlichen auszuloten, was wir machen könnten, um doch ab und zu einen Besuch hinzubekommen. Hatten uns gekümmert. Hätten sogar so medizinische Ganzkörperanzüge besorgen können und alles. Wir bekamen Unterstützung und Verständnis bis hin zum Chefarzt. Da war aber Schluss. Wir resignierten. An meinem Geburtstag schaffte ich ein letztes Aufbäumen. Ließ mich nicht abwimmeln und bis zur Geschäftsführerin verbinden. Sie drückte ihr Bedauern aus und sagte, das man da in der aktuell unklaren Lage nichts machen könne. Ich meine, Tränen in ihrer Stimme gehört zu haben.
Zwei weitere schlimme Tage später erhielt ich morgens einen Anruf, der mit den Worten begann: »Sie wissen, wenn man einen Anruf aus dem Krankenhaus erhält, sind das selten gute Nachrichten…«. Der Arzt, der stammelnd sein Bedauern ausdrückte, über den Tod meiner Mutter, der uns über die Wochen gut kennengelernt hatte, weinte. Diesmal klar vernehmbar. Ich saß anschließend benommen und taub auf dem Boden und wusste nicht weiter. Ich schob den Gedanken beiseite, ob und was meine Mutter in ihren letzten Tagen und Stunden vielleicht gedacht hat und was nicht. Die damalige Inzidenz in unserem Landkreis betrug 12. Ich hab das später mal nachgeschaut.
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Wie schon zu oft in ähnlichen Situationen schaltete ich erstmal auf Ratio um. Nur nichts fühlen jetzt. Funktionieren und keine Fehler machen. Jetzt kommt es auf dich an. Der Rest ist gerade nicht zu gebrauchen. Die Illusion aufrecht halten, dass es bei dir selbst anders ist.
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Vier Tage später hatten wir eine Aufbahrung in der Friedhofskapelle gegen den unsicheren Widerstand hilfloser Behörden genehmigt bekommen. Der Leichnam wurde freigegeben. Eine Stunde am kalten Körper meiner Mutter. Nur Maria, mein Bruder und ich. Ein letzter Besuch in absoluter Stille. Das war gut, wichtig und richtig. Rückblickend. So war uns ein Abschied möglich. Es schien einmal kurz die Sonne durch die bunten Bleiglasfenster. Das weiß ich noch. Ob das ein Zeichen war, kann einem egal sein.
Sie hat ihr Leben mutig, aufrecht und gut gelebt. Sie war
eine großartige Mutter. Ein guter, gerechtigkeitsliebender, sich selbst aufopfernder Mensch.
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Fast zwei Monate später fand dann die Trauerfeier statt. Das war keine gute Idee. Der Tod war da schon lange her. Ich hatte es mir aber in den Kopf gesetzt, ihr die beste Trauerfeier möglich zu machen, die im Rahmen der Umstände möglich war. Dazu gehörte auch, möglichst vielen Leuten ein Kommen zu ermöglichen. Ich reizte den Maximalzeitraum aus, in dem eine Urne beigesetzt werden muss, in der Hoffnung, dass bis dahin wieder mehr Menschen in der Trauerhalle unterkommen dürfen. Dieser Aspekt menschlichen Lebens wurde aber von der Politik irgendwie vergessen.
Am Tag der Trauerfeier befinden sich zwanzig symetrisch auf Abstand gestellte Stühle in der riesigen städtischen Trauerhalle, in der sonst vielleicht 300 Stühle stehen. Wir rücken sie eigenmächtig zusammen. Es war nicht leicht, die sechzehn Personen auszuwählen, die außer mir und Maria sowie meinem Bruder und seiner Freundin an der Trauerfeier teilnehmen dürfen. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob ich dabei alles richtig gemacht habe. Irgendwann läuft „Alone again (naturally)“ in der von Manfred Krug gesungenen Version.. Mutter war seit ihrer Jugend großer Fan von ihm, dem Sänger und Schauspieler. Während das Lied spielt, bricht es aus mir raus, ansonsten lass ich den Anlass vollständig taub über mich ergehen. Irgendwann ist ihre Asche bei ihrem Mann und unserem Bruder bestattet. Ich gucke auf den Grabstein und komme innerlich aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Was für ein Stein, was für Geschichten, was für eine Scheiße. Am Ende bin ich eher froh und erleichtert, dass ein Leichenschmaus gerade nicht stattfinden und ich wieder nach Hause kann.
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Wie es sich anfühlt, in einem harten Lockdown den Hausstand seiner Eltern zu räumen, wo beinahe jeder Gegenstand eine Erinnerung bereit hält, fällt mir schwer zu schildern. Auf der rein praktischen Seite war es ziemlich schwierig, Dinge zu verkaufen, Dinge zu entsorgen und Aufhebenswertes vom Gegenteil zu unterscheiden. Außerdem zeigte sich in dieser Zeit, so generell, dass der Umgang mit dem Tod in dieser Gesellschaft dann am kaputtesten ist, wenn jeder mit seinem eigenen rechnet.
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Ich gehe schnell wieder auf Arbeit nach dem Tod meiner Mutter. Zu schnell. Auch dort spitzt sich die Lage zu. Die Gesellschaft dreht durch. Die letzten Funken Vernunft und Herz gehen flöten. Das bringt mich an Grenzen. Konkret in meiner direkten Lebenswelt, aber auch im großen Ganzen. Es wollen mir einige Dinge zunehmend nicht mehr in den Kopf. Im Laufe der Monate bin ich immer öfter froh, es am Morgen auf Arbeit geschafft zu haben und an manchen Tagen muss das dann auch reichen. Auf Arbeit ist zunehmend nur noch egoistisches Arschretten, Verkennung von Fakten, Ignoranz und Daumenschrauben anziehen angesagt. Ich denke nur noch abgründigen Dreck. Im Herbst 2023 zerbricht dann meine Tür im Keller, vom Flansch her. Klar, schwächste Stelle. Maria redete zu dem Zeitpunkt schon fast zwei Jahre auf mich ein, dass ich was unternehmen muss. Vielleicht mal eine Reha oder so.
In der weiß nicht wievielten aufeinanderfolgenden Nacht ohne Schlaf macht mir mein Körper deutlich klar, dass sie Recht hatte. Was ich erst für einen Herzinfarkt halte, entpuppt sich als kapitale Panikattacke. Sehr beängstigend, wenn man sowas zum ersten Mal hat.
Am nächsten Morgen schaffe ich es noch zu meinem Hausarzt. Der stellt mir vielleicht so zwanzig Fragen, die ich mehr oder weniger alle mit Ja beantworte und außerdem sieht er mich ja vor sich sitzen. Er sagt: »Ich verschreibe dir jetzt Tabletten, dann geht es dir mit der Zeit besser. Für mich macht das aber nur Sinn, wenn du gleichzeitig auch eine Psychotherapie machst. Wir sehen uns in regelmäßigen Abständen wieder und gucken uns die Entwicklung an.«
Ich denke an Therapy?, der Band mit der bis zum bersten gespannten Snare im Schlagzeug, ihren 90er-Song eine Coverversion von Joy Divisions „Isolation“. und wie man dieser Band damals vorhielt, billig auf den Grunge-Zug aufzuspringen. Andy Cairns, deren Sänger, macht bis heute nahe der Bedeutungslosigkeit weiter Musik. Kurt Cobain nicht mehr. Wer von denen hat gewonnen? Übersprungsdenken.
Anschließend werde ich erst so richtig krank. Mehr als zwei Wochen lang schaffe ich es nicht, das Bett zu verlassen. Denke die ganze Zeit einen reisenden Strom an Gedanken, ohne Einzelheiten zu erkennen. Kein Stöckchen in Sicht. Das ist nicht unbedingt neu. Früher musste ich harten Metal hören, wenn ich konzentriert etwas machen wollte, damit die Gedanken zu dieser einen Sache eine Bande haben, an der sie langschleifen können. Krachbanden. Heute höre ich instrumentalen Jazz oder sowas wie Khruangbin. Nur keine Stimmen. Man wird älter. Die Nerven sind dünn.
An diesem Gedankenstrom hier war aber etwas anders. Er löste keinerlei Emotionen aus. Das Loch war bodenlos und ich damit vermutlich nie näher an der Gedankenwelt eines Zombies, als in diesen zwei drei Wochen. Dann begannen die Tabletten zu wirken. Langsam. Es wurde besser. Ich konnte mich um einen Therapieplatz kümmern. Jeder Mensch, den du triffst, kämpft einen schweren Kampf (Platon).
Diesen Text hätte ich nicht geschrieben, hätte ich nicht den jüngsten Blogbeitrag von Glumm gelesen. Glumm lese ich schon seit vielen Jahren. Es ist für mich der persönlichste und berührenste Beitrag, den ich dort jemals gelesen habe.
Ich konnte seinen Artikel nicht adäquat kommentieren. Deswegen schrieb ich diesen Blogbeitrag.
Sich (so früh wie möglich) Hilfe holen, hilft. Zum Arzt gehen hilft. Die Tabletten helfen (sehr gut). Vermutlich auch eine Therapie, aber das kann ich jetzt noch nicht mit Sicherheit sagen.
danke