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Wir sind gerade in Ahlbeck, Halbinsel Usedom, Ostsee. Es gilt, einen Schlussstrich zu setzen unter eine Zeit, die für mich herausfordernd war, um das Mindeste zu sagen. In den ersten Wochen auch bedrohlich, von der diffusen Sorte, mit der unklaren gefährlichen Bodenlosigkeit um einen herum. Ein unschöner Stabmixer in den Eingeweiden dessen, was man für sein eigenes Selbstverständnis hielt, auch. Aber nun ist man ja wieder auf einem guten Weg. Die Tabletten wirken und in der zweiten Stunde meiner Therapie habe ich gelernt, dass ich Grenzen habe und für deren Einhaltung selbst verantwortlich bin, weil sich sonst keiner weiter drum kümmert. Jetzt beginnt der lange Weg mit den Details, dem Warum und dem Wie, aber das Schlimmste ist vorbei und hat auch im Arbeitsumfeld ein versöhnliches Ende gefunden.
Einen Tag vor dem Beginn der Winterferien buchte ich also eine Reise an die Ostsee, wo erst gar keine vorgesehen war. Maria liebt die Ostsee. Sie musste durch meine Malaise mit der Familie mehr oder weniger alleine durch und ein spontaner Ortswechsel ist immer ein schöner Übergang in einen Aufbruch.
Mit der Wohnung habe ich einen echten Glücksgriff gemacht. Sie befindet sich in einem dieser neuen Touristenschlösser, die im Ahlbecker Kaiserstil in den Nullerjahren gebaut wurden. Es gibt einen Gaskamin mit Fernbedienung, für Maria und die Kinder eine kleine Sauna im Bad gegenüber der Regenwalddusche und wenn man im Elternschlafzimmer morgens aufsteht und aus dem Fenster guckt, kann man 100m die Häuserzeile runter sehen, ob die Ostsee noch da ist. Das alles für einen Tagessatz, für den man in den Sommerferien allenfalls noch die ausgebaute Garage von Klausens Horst am Bodden bekommt. Ich suche den Haken an der Sache immer noch. Mein persönliches Highlight sind die Boxspringmatratzen in unserem Kingsize-Bett. Ich habe noch nie in einem Urlaub (oder überhaupt?) besser gelegen und will sowas jetzt unbedingt auch für zu Hause. Vor der Abreise muss ich unbedingt noch den Hersteller der Matratze ermitteln. Man liegt ein Drittel des Tages bewusstlos rum. Da sollte der Untergrund gefällig sein. Es wird also Zeit adieu zur Bett1-Matratze zu sagen.
Teil der Abmachung ist, dass wir es betont entspannt angehen lassen in diesem Urlaub. Unbedingt auf volle Tagesprogramme verzichten. Wenn es regnet, den Kamin in Verbindung mit der mitgebrachten Literatur oder der klassischen Spielesammlung nutzen. Ansonsten möglichst viel spazieren, bevorzugt am Strand.
Das klappt alles bestens bislang. Bin immer wieder erstaunt, wie sehr einen schon drei Tage verpflichtungsfrei woanders sein entspannen können. Besonders in einem Ambiente aus Wellenrauschen und kaltem Nordwind.
Unsere Wege führen uns zwischen den Uferbrücken von Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin entlang. Es ist um die 5° kalt, der Wind weht, manchmal nieselt es. Kurz: es ist einfach herrlich. Die Rückwege an den Uferpromenaden führen uns an Baudenkmälern aus der Zeit des letzten Kaisers vorbei. Davor Tafeln der Art: „hier hat Kaiser Wilhelm I. regelmäßig Tee getrunken“, „hier schuf Schriftsteller Max Mustermann im Sommer 1891 sein berühmtes Werk „Aus dem Telefonbuch gelesen“. Und so weiter.
Maria träumt, ganz urlaubstypisch, in den ersten Nächten wieder ganz wilde Sachen. Ich kenne das schon. Letzte Nacht geriet sie, nachdem sie ein gefährliches Syndikat im Alleingang ausgelöscht hatte, in einen Bossfight mit Brad Pitt. Dieser stahl ihr mit dem Zeigefinger erst ein Auge und heiratete sie dann. Über die Freudsche Dimension dieses Traumes denke ich besser nicht weiter nach. Ich selbst weiß so gut wie nie, was ich träumte.
Dafür wurde bei mir in der ersten Nacht hier mein Status-LED-Hass aufgefrischt. An unserem Grundig-Fernseher im Urlaubsschlafzimmer befindet sich eine blaue LED, die anzeigt, dass der Fernseher gerade ausgeschaltet ist. Für deren Leuchtkraft hätte man früher eine 40-Watt-Glühbirne mit Wolframdraht gebraucht. Heute bekommt man das einfach so, sinnbefreit an einem Fernsehgerät. Nach der langen Autofahrt und einem langen Spaziergang an Seeluft bin ich aber im Halbschlafdusel auch nicht gewillt, aufzustehen und den Stecker zu ziehen. Erst am nächsten Morgen gelingt mir das. Ich werde ihn vermutlich nun nicht wieder in die Steckdose bekommen, so eng ist der Fernseher davor montiert, aber das ist mir jetzt erstmal egal.
Maria geht hier übrigens jeden Morgen zum Strand und dann in die 4° kalte Ostsee. Wie Gott sie schuf. Auf dem Rückweg bringt sie der Familie frische Brötchen mit. Ich liebe diese Frau.
Was ich auch liebe, sind meine abendlichen Spaziergänge allein. Heute zum Beispiel lief ich in absoluter Wolkenfinsternis am Strand zur blau beleuchteten Ahlbecker Seebrücke, die man vielleicht aus Loriots „Pappa ante portas“ kennt („Wir grahatuliiiiieren..“). Der Wind trieb den kalten Regen im 90°-Winkel in Jacke und Jeans auf der linken Körperhälfte. Am Ende der Seebrücke schaue ich eine Weile auf die Lichter der fernen, scheinbar an Schnur aufgereihten Containerschiffe, die Richtung Polen unterwegs sind. Dann trete ich den Rückweg an, sodass auch meine rechte Seite schnell klatschnass ist. Ich mag solche elementaren Erfahrungen und treffe auf dem Weg keinen weiteren Menschen.
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