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Spieleabend

Mitte der Nullerjahre hatte ich in meinem Singleloch von einer Wohnung eine mittelmäßige Karriere als E-Gamer hinter mir. Ich lernte okaye Leute im Internet kennen, fuhr mit den Nerds von dort auf LAN-Partys im ganzen Land. Im „real life“ der ostdeutschen Provinz versumpfte ich aber zusehends.
Der gesamte Inhalt meines Kleiderschranks lag getragen und ungewaschen auf dem Boden verstreut und auch sonst hatte ich allerhand Zeug eilig vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer zu schmeißen, wenn es mal an der Tür klingelte und ich aufmachen musste. Dosen, Verpackungen, Unrat, gestapelte Werbeprospekte aus dem Briefkasten. So auch an diesem besonderen Abend, als Georg an der Tür klingelte und Widerstand zwecklos war. Er ist ein ehemaliger Mitschüler von mir und wir waren wegen dieser E-Gaming-Sache zuletzt nach vielen Jahren wieder irgendwie in Kontakt gekommen. Vermutlich über ICQ.

An diesem Abend also klappte Totstellen nicht und wäre auch, wie eigentlich jedes Mal, ziemlich blöd von mir gewesen. Draußen war es dunkel und man konnte das Licht meines riesigen 24-Zoll-Röhrenmonitors problemlos von der Straße aus sehen. Deswegen zum Beispiel und weil Georg einer der wenigen Sozialkontakte war, mit denen ich in der Zeit überhaupt was anfangen konnte, machte ich auf.
Georg hatte beschlossen, dass ich heute zu seinem Verein mitzukommen hatte. Ich hatte keine Lust. Seit mein Bruder gestorben war, hing ich überhaupt ziemlich in den Seilen, allerdings war das nun auch schon wieder zwei drei Jahre so und das, ganz objektiv betrachtet, kein Zustand. Nach einem innerlichen »Scheiß drauf..« ging ich mit.

Wir kamen mit seinem Golf im Nachbardorf an und betraten ein uraltes Haus, in dem in früheren Jahrhunderten sonst immer der Küster wohnte, wie ich später erfuhr. Oben, im ausgebauten Dachgeschoss, befand sich das Vereinsdomizil, welches total verqualmt, laut und voller Leute war, als wir die Tür öffneten. In der größten Gruppe spielte man in einer verwohnten DDR-Wohnlandschaft das „Spiel des Wissens“ auf einem Fliesentisch. Ich kam passend zu einer neu begonnenen Runde und konnte gleich mit einsteigen. Mehr als meinen Namen hatte man bislang nicht von mir wissen wollen, und so blieb es eigentlich auch. Ich war einfach mit da. Eine gelockte Mareike, deren Hintern beim Gehen quietschte, so prall und fest waren die Backen, bestand darauf, mit mir ein Team zu bilden, damit sie »den netten jungen Mann mal etwas besser kennenlernen könne«. Auch hier war Widerstand zwecklos.
Die Spielleitung hatte Schuwiak übertragen bekommen, ein riesiger Kerl mit dem guten Herzen und Hirn eines Sechsjährigen. Das gab dem Spiel einen gewissen Twist. Als ich gefragt wurde, welcher der vier folgenden Meeresbewohner kein Fisch ist, antwortete ich mit »Blauwal«, was von Schuwiak erstmal als richtig gewertet wurde. Die Gegenspieler protestierten sofort, ob er sich da auch ganz sicher sei und er kam stark ins Grübeln. Seinem Gesicht dann einer Ewigkeit beim Nachdenken und mit sich selbst Hadern zuzuschauen, brachte mich zum Grinsen. Sein wohl abgewägtes Urteil: »Nee, ich glaube das ist doch falsch« nahm ich ohne jede Gegenwehr hin. So ging das immer weiter.
Als mir später auffiel, dass in einer dunklen Ecke des Lofts jemand wie eine Galionsfigur im Gegenlicht hing, der offenbar mit Gaffaband an einen schrägen Dachbalken geklebt worden war, fragte ich: »Warum hängt der denn da?« und bekam die Antwort: »Das ist Olli, der hat vorhin zwei Flaschen Schnaps umgekippt und wir hatten keine Leiter, um ihn zu Leitern«. Auch diese Antwort hielt ich für völlig legitim. (Was ich inzwischen aus eigener Erfahrung weiß: beim Leitern handelt es sich um eine Bestrafung, bei der straffällig gewordene Vereinsmitglieder an einer Leiter gefesselt und in spitzem Winkel an eine Wand gelehnt werden. Jede falsche Bewegung des so Gefesselten kann dazu führen, dass die Leiter umkippt. Über das Ende der Leiterung entscheidet der Zufall oder ein Sturz der Leiter.).

Es entwickelte sich ein sehr anarchischer Abend in einem sehr anarchischen Verein. Alle Menschen hier waren mir unheimlich sympathisch.

Irgendwann am frühen Morgen wachte ich alleine in der Wohnlandschaft auf, ging ohne weiter nachzudenken nach draußen und zog die Tür hinter mir zu. Mein MP3-Player spielte ein „Best of“-Album von Leonard Cohen, während die Sonne aufging. Das Wort „Suzanne“ ersetzte ich in Gedanken stumm durch „Mareike“, als ich die sieben Kilometer glücklich zu meinem Wohnloch lief. In diesem Augenblick begann meine späte zweite Jugendphase, die mein Leben in eine entschieden bessere Richtung drehen würde. Ein Jahr später wurde ich durch eine Verkettung von nicht mehr ganz nachvollziehbaren Umständen zum Vereinsvorsitzenden gewählt und machte meine Sache ganz gut.

Davor war ich in diesem Verein Mitglied einer Band geworden und konnte meinen alten „Epiphone Thunderbird“ wieder vom Schrank holen. Wir coverten Alternative Rock, der so unbekannt war, dass ihn das ungeschulte Publikum für unsere eigenen Songs halten konnte. Pixies, L7, Spillsbury. Sowas. Wenn unsere Sängerin drauf bestand, mal wieder was für ihre sensible weibliche Seite in Angriff zu nehmen, willigten wir manchmal in Songs wie „Femme Fatale“ von Velvet Underground ein, machten aber meistens von unserem Vetorecht gebrauch. Ansonsten waren wir Idioten. Der Schlagzeuger weigerte sich, einen Schellenkranz zu benutzen oder auch sonst auf irgendeinen Veränderungsvorschlag einzugehen und drosch uns ansonsten die Trommelfelle kaputt, der Gitarrist zickte rum, wenn einer seiner Vorschläge nicht den nötigen Anklang fand, und ich übte einfach zu wenig, aber für den Bass reichte es. Wir waren das Klischee einer Band. Davon abgesehen haben wir uns prächtig verstanden und schmissen legendäre Proberaumpartys mit Groupies, Alkoholexzessen und allem drum und dran.

Auch wenn das damals der erfolgreiche Weg aus meiner Krise und der perfekte Ausgleich zu meinem Büroalltag war, kam es in meinem Büroalltag nicht besonders gut an, dass meine Haare länger wurden, ich mir einen albernen Metalhead-Kinnbart wachsen ließ und immer öfter mit tiefen Augenringen auf Arbeit erschien. Es gab Probleme und schließlich eine Versetzung raus aus dem Sichtfeld der Öffentlichkeit.

Zwanzig Jahre später habe ich Georg und diesem Verein alles Gute in meinem derzeitigen Leben zu verdanken. Meine Frau hätte ich nie kennengelernt ohne diesen Verein, ich hätte meine Kinder nicht bekommen und wesentlich mehr Geld für ein Eigenheim bezahlt. Auch für meine persönliche Weiterentwicklung waren all die Jahre pures Gold. Ich habe dort, vermutlich erstmals in meinem Leben, echte Freunde gefunden, auch wenn die Anarchie im Laufe der Jahre verblasste und bei fast allen einem erfolgreichen Erwachsenendasein wich.

Zwanzig Jahre später war es aber nun endlich auch nötig, meinem Berufsleben wieder eine gesündere Richtung zu geben. Das ist mir am vergangenen Montag gelungen und irgendwie auch ein Ergebnis meiner Entwicklung.
Das Personalgespräch war erstaunlich gut. Man mag mich und meine Arbeit und gab mir sofort eine echte Option, trotz meiner Krankheit. Ich schlief seitdem jede Nacht wie ein gesundes Baby.

Bonus:

Diese Dokumentation ist eine der besten und ehrlichsten aus dem Innenleben einer Band, die ich kenne. Es handelt sich dabei um eine meiner Lieblingsbands, den oben genannten Pixies, aufgenommen während der Reuniontour im Jahr 2004 (damals noch mit Frank Black, Kim Deal, Joey Santiago, David Lovering):

https://www.youtube.com/watch?v=p36v5VgbEEo&t=3239s

Bonus 2:

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